Wurzeln geschlagen

Niemand brächte sie von hier wieder weg. Emil und Christel Reinhardt sind begeisterte Wiblinger. Ihr zweites Loblied gilt ihrer schmucken Wohnung in der St.-Gallener-Straße 22, worin ein unauffälliges Foto in der Diele eine sehr persönliche Geschichte erzählt.

Fast hätten wir das Bild übersehen. Das hängt zum einen mit der Vielzahl an Bildern zusammen, welche die Wände in ihrer Wohnung schmücken. Zu entdecken sind Blumenaquarelle, ein Ölbild mit der
Kirche von Ramsau, van Goghs Sonnenblumen, viele Schmuckbildchen, Ulmensien und eine ganze
Galerie von Fotos mit den Kindern und Enkeln. Und zum andern? Auf der Fotografie ist eine Tanne drauf, und sonst eben nichts.
Die Tanne schaut aus, wie eine Tanne eben ausschaut.
Doch dann tippt Christel Reinhardt (Jahrgang 1934) an den waagrecht entspringenden unteren Ast: „Da hing früher meine Schaukel dran.“ Damals war sie Kind. Damals gehörte ihre Heimat in Ostpreußen noch zu Deutschland. Als sie 1996 erstmals nach der 1948 erfolgten Ausweisung ihrer Familie wieder dorthin zurückkehrte, waren so gut wie alle stofflichen Spuren von deren Existenz dort verschwunden. Ein paar alte Ziegel meinte sie noch ihrem Elternhaus mit der kleinen Landwirtschaft zuordnen zu können. Nur die Tanne, die als Schaukelgerüst diente, die stand noch. Sie habe sie sofort wieder erkannt. Ihr ein Jahr älterer Mann Emil und dessen Bergmannsfamilie haben ein ähnliches Flüchtlingsschicksal hinter sich: Sie mussten 1945 aus Oberschlesien fliehen. Reiner Zufall, dass sich später in Ulm beider Wege kreuzten: Er, inzwischen Elektriker, hatte in einer Kindertagesstätte was zu erledigen, sie war dort angestellt. Es funkte zwischen den beiden, und das hatte nichts mit Strom zu tun. 1957 heirateten sie.

Modernisierung gut überstanden

Drei Söhne erblicken das Licht der Welt, die Wohnung war recht klein. Als ihnen unsere Genossenschaft 1983 ihre heutige Wohnung anbot, griffen sie gerne zu. Sie haben darin Wurzeln geschlagen.
Die ruhige Lage, die guten Einkaufsmöglichkeiten, die Nähe zum Wald – all dies zählt für das Ehepaar zu den unschlagbaren Pluspunkten ihres Wohnquartiers.

Einmal aber wurde ihr Nervenkostüm dann doch etwas strapaziert: als im vergangenen Jahr eine Wohnungsmodernisierung allerhand Staub aufwirbelte. Damals lernten sie ihren Schrebergarten nochmals mehr zu schätzen: „Da sind wir schon zum Frühstück hin und bis Abend geblieben“, erzählen sie rückblickend. Die „Belohnung“ bestand in einem
neuen Bad. Was das Ehepaar ebenso freut, ist der nachträgliche Einbau eines Aufzugs in das Bestandsgebäude:
„Das gibt uns Sicherheit.“ Möglichst lang noch wollen sie in ihrer Wohnung bleiben. In diesen spannenden Wochen hat sich in dort so viel verändert wie in den vergangenen Jahrzehnten nicht. Denn Reinhardts Anspruch ist es, dem Wegwerf- Wahn zu widerstehen. Ihrem einmal als gültig eingestuften Mobiliar sind sie weitgehend treu geblieben, lediglich die Couch-Garnitur hat schon mehrere Auswechslungen hinter sich. Ihr neues Bad ist nun makellos weiß statt wie vorher beige. Im Schlafzimmer dominiert ein gedecktes, heiteres Orange. Auch was die Einrichtung betrifft, lieben sie es eher ruhig. Mit einer Ausnahme: Emil Reinhardt besitzt einen noch funktionsfähigen Kassettenrekorder und bringt auf diese Weise mit Schlagern Schwung in die Wohnung. Seine alte Heimat hat er übrigens nie wieder gesehen: „Ich stelle mir vor, dass mich das sehr belastet hätte.“

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